13. Oktober 2009 Ohne zu zögern, ziehen sie sich aus. Muskelberge kommen zum Vorschein. Man sieht, Jürgen Spieß und Almir Velagic sind Gewichtheber. Zu Unterhosen, weißen Tennissocken und Turnschuhen tragen sie jetzt noch Stirnband, Mundschutz und Handschuhe. Eine Minute später finden sich die zwei jungen Athleten bei arktischen Temperaturen wieder – in der Kältekammer des deutschen Bundesleistungszentrums in Kienbaum, knapp siebzig Kilometer östlich von Berlin.
Bei minus 10 und minus 60 Grad wird kurz “aufgewärmt”, dann geht es für zweieinhalb Minuten in die dritte Kammer mit minus 110 Grad. Ein Kollege hört über Lautsprecher mit, was die beiden zu sagen haben. Außerdem kontrolliert er die Zeit. Eine halbe Minute länger würde zwar nicht schaden, doch die erwünschten Effekte verringern. Nach der vorgeschriebenen Zeit stapfen Spieß und Velagic dampfend und stöhnend aus der Kammer. Weiße Gänsehaut, die Schuhe quietschen. “Jetzt ist mir noch sehr kalt, aber nach 15 Minuten bin ich so richtig gut durchblutet”, sagt Spieß. Das Gewichtheber-Duo bereitet sich zurzeit in Kienbaum auf die bevorstehenden Weltmeisterschaften in Südkorea vor. Dazu gehört auch diese Kälteprozedur.
Vom Hürdenläufer bis zum Bobfahrer ließen sich seit Eröffnung der Kammer Mitte Juli schon etliche deutsche Sportler schockgefrieren. Die kurzfristige, hochdosierte Kälte ist “eine Art Anti-Doping-Programm”, sagt Klaus-Peter Nowack, Geschäftsführer des Zentrums. Die Kältekur verbessere die Leistung und fördere die Regeneration, ohne dass die Sportler zu unerlaubten Mitteln greifen müssten.
Lässt sich das auch wissenschaftlich belegen? “Im Spitzenbereich kommt es zu einer Leistungsverbesserung von einem bis zwei Prozent, im unteren Leistungsniveau bis über zehn Prozent”, sagt Winfried Joch, mittlerweile emeritierter Sportwissenschaftler der Universität Münster. Er forscht seit über zehn Jahren zusammen mit der Privatdozentin Sandra Ückert von der Technischen Universität Dortmund an Kälteapplikationen im Sport. Dazu gehören neben der Kältekammer auch Kühlwesten, Kaltluft, kalte Duschen und Bäder in zerkleinerten Eiswürfeln.
Welchen Effekt erhoffen sich die Sportler außer einer Gänsehaut? In der Kältekammer sinkt die Temperatur der Haut zunächst von 33 Grad auf etwa 15 Grad ab. Dadurch verengen sich die peripheren Gefäße, das dort zirkulierende Blut verlagert sich ins Körperzentrum. Das hat zur Folge, dass das Herz mehr Blut pro Herzschlag in den Körper pumpt. Die Muskulatur wird stärker durchblutet. Dadurch kann der Athlet unmittelbar nach der Kältebehandlung mehr Leistung abrufen. Konkret bedeutet das: Ein Radfahrer schafft in vorgegebener Zeit mehr Kilometer, ein Kugelstoßer katapultiert die Kugel weiter.
Winfried Joch hat im Anschluss an die Kältebehandlung Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer oder Koordinationsfähigkeit der Probanden getestet. So absolvierten in einer bisher unveröffentlichten Studie acht Volleyballerinnen der deutschen Bundesliga einen Koordinationstest, bei dem sie ein aufleuchtendes Signal antippen mussten, während die Füße in einem bestimmten Muster sprangen. Ergebnis: Vorher gut gekühlt, schnitten die Volleyballerinnen um fünf Prozent besser ab.
Doch nicht nur das sogenannte “precooling”, sondern auch eine Kühlung während des Sports wirkt sich offenbar positiv auf die Leistung aus. Bei einer Studie, die Joch und Ückert vor zwei Jahren im British Journal of Sports Medicine veröffentlicht haben, mussten zwanzig männliche Testpersonen so lange auf einem Laufband laufen, bis sie nicht mehr konnten. Dabei wurde schrittweise die Geschwindigkeit gesteigert. Trugen die Männer Kühlwesten, hielten sie im Schnitt zwei Minuten länger durch. Wärmten sie sich dagegen vor dem Laufen zwanzig Minuten lang auf, brachen sie den Test fünf Minuten früher ab. Kühlen sei besser als Aufwärmen, folgerten die Autoren.
Das gilt vor allem für Ausdauersportarten. Und hängt natürlich von der Außentemperatur ab. So liegt laut Joch die optimale Umgebungstemperatur für einen Marathon bei zehn bis zwölf Grad. Aber selbst beim Berlin-Marathon Ende September stieg das Thermometer auf 19 Grad an. “Viel zu warm”, sagt Joch und vermutet, dass der äthiopische Läufer Haile Gebrselassie in Berlin deshalb zwei Minuten über seinem eigenen Weltrekord aus dem Vorjahr blieb.
Bei den Triathlon-Weltmeisterschaften auf Hawaii herrschen noch ganz andere Verhältnisse. An diesem Wochenende quälten sich dort bei tropischen Temperaturen wieder knapp zweitausend Teilnehmer durch 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen. “An die Thermoregulation werden da hohe Anforderungen gestellt”, sagt Joch. Eine Kühlung hält er unter diesen Umständen für “hochgradig sinnvoll” und empfiehlt eine Kühlweste. Sie wiegt 800 Gramm und kann vor oder während des Radfahrens und beim Marathonlauf getragen werden. Fußballer seien mit solchen Kühlwesten während eines einstündigen Laufs bei 85 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz bereits zwei Runden mehr gelaufen als ihre ungekühlten Kollegen.
Der Chefkampfrichter auf Hawaii, Jimmy Riccitello, selbst früherer Triathlet, kennt solche Experimente vom Hörensagen. Allerdings habe er noch nie gesehen, dass jemand so eine Weste auch beim Wettkampf trägt. Vielmehr würden die meisten auf weiße Kleidung setzen und sich an den Verpflegungsstationen mit Eiswürfeln eindecken. Ein paar Profis tragen Handschuhe, die mit Eiswürfeln gefüllt sind. Im Übrigen verteilt der Veranstalter wie üblich nasse Schwämme. Über dem Kopf ausgedrückt oder ins Trikot gestopft funktionieren sie nach dem gleichen Prinzip der Verdunstungskälte wie die Weste oder körpereigener Schweiß.
Generell lässt sich die Kälte in einer Kammer natürlich viel exakter dosieren. Beim Baden in Eiswürfeln oder unter der kalten Dusche besteht dagegen die Gefahr, dass die Muskulatur zu stark auskühlt. Da es aber bisher keine transportablen Kältekammern gibt, bleibt die Methode vorerst auf das Training beschränkt. Und auch dort muss sie Klaus-Peter Nowack vom Bundesleistungszentrum erst einmal an den Mann bringen. Nachdem Jürgen Spieß und Almir Velagic ihr Kälteprogramm durchgezogen haben, geht Nowack in die benachbarte Turnhalle, wo sich die deutsche Volleyball-Nationalmannschaft der Frauen auf die Europameisterschaften in Polen vorbereitet. Dem Physiotherapeuten schwärmt er von seiner Kältekammer vor. “Seit wann habt ihr das denn?”, fragt der Zweimetermann und guckt skeptisch. Doch nach fünf Minuten Überzeugungsarbeit fragt er tatsächlich nach einem Termin.
Ob der Kälteeffekt nun restlos erforscht ist oder nicht – zumindest Jörg Dallmann dürfte das ziemlich egal sein. Der deutsche Eisschnellläufer kommt jeden Donnerstag ins Leistungszentrum und setzt sich den minus 110 Grad aus. Seine Bandscheiben machen ihm zu schaffen, die Kälte soll Linderung bringen. “Vom Gefühl her ist es besser geworden”, sagt er.
Und das ist das Wichtigste im Sport. Wie die Regeneration oder die Leistung erzielt wurde, interessiert nach dem Wettkampf niemanden mehr. Hauptsache, alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Nach Auffassung der internationalen Anti-Doping-Agentur Wada gibt es jedenfalls kein “Kälte-Doping”.
Quelle: FAZ-Net.de
Text: F.A.S.